20. Januar – Sankt Sebastian und die Misericordia
Am 20. Januar wird am Florentiner Domplatz Brot verteilt: im Sitz der Misericordia, einer der ältesten und bedeutendsten karitativen Einrichtungen der Stadt, wird mit der Ausgabe von gesegneten kleinen Broten seit Jahrhunderten der Festtag des Hauptpatrons der Bruderschaft begangen: der Tag des hl. Sebastian.
Heute wechseln die Brötchen nicht mehr direkt von gebender zu nehmender Hand, sondern werden, mit Gewinn an Hygiene und Verlust an Symbolkraft, in Papiertüten unter die Besucher gebracht. Das Ritual aber ist das alte und der jährliche Besuch im Sitz der Misericordia wird für viele Florentiner zu ihrem Jahresablauf gehören, solange die Misericordia Bestand hat. Und die Misericordia selber ist ohne diese innige Verbundenheit mit der Stadt gar nicht zu denken.
Die Misericordia
Der Zusammenschluss entstand in der Mitte des 13. Jahrhunderts und war Ausdruck eines praktischen Sinnes der Nächstenliebe, der den Dienst am Gemeinwesen im Auge hatte. Zur Berufung der Mitglieder der Bruderschaft wurde es, auf ehrenamtlicher Basis, die Organisation und Durchführung von Kranken- und Leichentransporte zu gewährleisten. Über Jahrhunderte sicherte sogar eine spezielle Tracht die Anonymität der Mitglieder bei der Ausführung ihrer Dienste. Die Mitgliedschaft in der Misericordia, als aktives Volontariat, ist bis heute bei vielen Florentinern als Familientradition lebendig geblieben, auch wenn sich natürlich vieles geändert hat und das Volontariat nur noch einen Teil der Bedürfnisse einer entschieden komplexeren Struktur abdecken kann.
Die Misericordia heute ist in der Tat ein nicht wegzudenkender Teil des Florentiner Gesundheitswesens und deckt neben traditionellen Aufgabenbereichen wie Krankentransport und erste Hilfe, ein weites Spektrum von ärztlichen und pflegerischen, ambulant durchführbaren Dienstleistungen ab.
Vorgeschichte und Anfänge
Die Verbundenheit der Misericordia mit dem Florentiner Volk ist ein wesentliches Element ihrer Gründungslegende. Die Einrichtung wäre in der Tat aus den erzieherischen Bestrebungen des einfachen und frommen Lastenträgers Pietro Borsi hervorgegangen. Borsi’s Einsatz sei es zu danken – so will es die Tradition – wenn einige Florentiner Lastenträger sich zu einer Bruderschaft zusammenschlossen, deren anfängliches Ziel vor allem die Beförderung des Seelenheiles ihrer Mitglieder war. Die stetig wachsende Gruppe um Borsi bestimmte, dass, um den Weg der Mitglieder zur moralischen Besserung zu stützen, für gotteslästerliche Flüche und ähnliche Entgleisungen eine kleine Geldstrafe in die Gemeinschaftskasse zu zahlen sei. Von guten Absichten beflügelt, ihrem Naturell nach aber den sprichwörtlichen deutschen Bierkutschern verwandt, füllte sich die Gemeinschaftskasse des Zusammenschlusses schnell. Und statt den Inhalt in Intervallen zu verprassen, hatte Borsi die zündende Idee, den Preis der menschlichen Schwäche zur Ehre Gottes und zum Nutzen der Stadt Florenz zu investieren. Mit dem Geld wurde die notwendige Ausstattung angeschafft, um das gravierende Problem der unbekannten und mittellosen Toten, für die sich keiner verantwortlich fühlte, gezielt anzugehen: Transportmittel und Beerdigungsplätze. Als Leichenträger begann also, so will es die Tradition, die Misericordia ihren Weg in die Zukunft.
Tobit und Sebastian
Der erste Patron der Bruderschaft war, dieser Mission entsprechend, der alttestamentarische Tobit, der mitleidig und dem Gebot Gottes folgend, den Unbeerdigten, Begräbnisse gespendet hatte.
Doch im Laufe des 15. Jahrhundert begann ein anderer, im pestgeplagten Europa ungemein populärer Heiliger, den alten Patron zu flankieren: der heilige Sebastian. Jung, strahlend und schön: ein mächtiger Patron, repräsentierte er doch die Hoffnung den Klauen des Todes entgehen zu können.
Krise und Neuanfang
Der Aufstieg des heiligen Sebastian wirkt in der Geschichte der Misericordia fast wie das Zeichen ihrer eigenen Wiederauferstehung. – In der Tat nach gut 60 Jahren, in denen die Bruderschaft ihre Eigenständigkeit eingebüßt hatte, gelang es dem Zusammenschluss im späten 15. Jahrhundert – wenn auch unter Preisgabe seines ehemaligen Sitzes und seiner Ausstattung – seine Unabhängigkeit wieder zu gewinnen. 1489 wurde der Sieg mit neuen Statuten besiegelt. Und in das neue Oratorium zog, testamentarisch vom Künstler selber verfügt, die pathetische Sebastiansfigur von Bendetto da Maiano ein, die auch noch in der heutigen Kapelle zu finden ist.
Brot
Dieser Neuanfang hat sicherlich eine Rolle gespielt, vor allem aber die große Bedeutung die andere Tätigkeitsfelder, allen voran die Krankentransporte, im Rahmen der Misericordia gewannen: knapp hundert Jahre später, als die Misericordia ihren heutigen Sitz bezog, sah sich der gesetzestreue Leichenbestatter Tobit, durch den todesüberwindenden Neuankömmling Sebastian als Hauptpatron verdrängt und man begann damit, Brot an die Bedürftigen zu verteilen: ganz sicher eine Entscheidung für das Leben.
Misericordia, Piazza del Duomo 8.00 -17.30