Vashti und Esther
Im Florentiner Horne-Museum befindet sich ein kleines Filippino Lippi zugeschriebenes Tafelgemälde, das angesichts seiner Dimensionen und zurückhaltenden, aquarellähnlichen Farbigkeit leicht zu übersehen ist.
Auch der Erhaltungszustand und gewisse malerische Unsicherheiten kommen der unmittelbaren Anziehungskraft der kleinen Tafel nicht unbedingt zugute. Seine technischen Schwächen waren auch dem Botticelli-Forscher und Sammler Herbert P. Horne nicht entgangen, der das Werk 1908 erworben hatte: ein Bild „voller Charme“, wie er bemerkte, aber „in letzter Instanz schwach“. Dem entsprechend war Horne, entgegen der heute vom Museum vertretenen Zuschreibung an Filippino Lippi, der Meinung, dass die Tafel von einem anderen, weniger begabten Botticelli-Mitarbeiter ausgeführt worden wäre.
Bei all seinen Schwächen liegt dem Bild jedoch eine große kompositorische Sensibilität zugrunde und es überrascht durch seinen, gerade in seiner Schlichtheit ungewöhnlichen Bildgegenstand.
Abschied
Zu sehen ist eine elegant gekleidete Frauenfigur, die einen ummauerten Ort verlässt: aus einem Tor hervortretend, nimmt sie ihren Weg in eine dämmrige, von zwei Bäumchen bestandene, weite Landschaft. Das blonde Haar der jungen Frau ist frisiert und sie trägt ein goldbesticktes blaues Kleid, über das sie einen weiten roten Mantel geworfen hat.
Sie bewegt sich mit langsam, zögerndem Schritt, dem die Unsicherheiten in der malerischen Ausführung etwas fast rührend Unbeholfenes verleihen. Die Schleppe ihres Mantels staut sich in zwei schweren Falten eben außerhalb des von ihr durchschrittenen Torbogens, während ihr gesenktes Profil sich vor einem der Verstärkungstürme der Mauer abzeichnet und ihre vorgestreckte Hand wie tastend über die Kontur der Befestigung hinausgreift.
Sie steht auf einem kurzen gemauerten Steg, der mit einer Stufe abschließt, auf die ihr Blick gerichtet ist. Die kleine Brücke findet ihre geradlinige Verlängerung in einem eben angedeuteten, nach rechts aus dem Bild führenden Pfad.
Ihr Weg aus der Stadt/Burg in die Natur hinaus wird durch den Schatten vorgezeichnet, den die Frau vor sich auf den Boden wirft: begleitet von den diagonal fallenden Schlagschatten der Ringmauer, tritt sie aus einem lichtdurchfluteten Ort hervor, um ein verschattetes Land zu betreten. Der Charme des Bildes liegt sicherlich – die verschiedenen Etappen des Sich-Entfernens abmessend – in eben dieser verhaltenen Melancholie.
Ein Stimmungsbild könnte man meinen, würde nicht seine Zugehörigkeit zur Kultur des 15. Jahrhunderts nahelegen, einen präzisen, erzählerischen Zusammenhang anzunehmen. Dieser Zusammenhang ist in der Geschichte der biblischen Esther gegeben.
Das Bildchen war ursprünglich zusammen mit zwei weiteren, heute in Ottawa und Chantilly aufbewahrten Tafeln Teil eine Brauttruhe, für deren Bemalung die Werkstatt Sandro Botticellis verantwortlich zeichnete. Der Anteil Botticellis bei dieser Truhe dürfte sich auf die Planungsphase und auf Vorzeichnungen beschränkt haben. Im speziellen Fall wird davon ausgegangen, dass der ausführende Künstler einen Karton Botticellis zur Grundlage nahm.
Ankunft – Esther
Das Hochformat des Florentiner Bildes, seine Dimensionen und der Vergleich mit den anderen Tafeln weisen darauf hin, dass es ursprünglich die Brauttruhe auf der rechten Seite zierte. Auf der anderen, der linken Truhenseite war eine in Ottawa aufbewahrte Tafel zu finden, auf der, ebenfalls von links nach rechts ausgerichtet, eine junge Frau, ihr Kleid gerafft, beschwingten Schrittes und erhobenen Hauptes in eine ummauerte Stadt eintritt. Sie hebt sich deutlich in ihrem leuchtenden, frontal vom Licht getroffenen rosaroten Gewand vor der gedämpften Farbigkeit des Bildhintergrundes ab. Gegenüber dem Abtreten, dem Bühnenabgang, der das Thema der Florentiner Tafel ist, ist hier ein Auftritt dargestellt: als ob die Protagonistin in das Scheinwerferlicht der Bühne träte.
Die Vorderseite, die sich im Musée Condé in Chantilly befindet, zeigt die Brautwahl des Königs Ahasveros, deren Vorgeschichte – der mit Verstoßung geahndete Ungehorsam der Königin Vashti – im Hintergrund behandelt wird. Auf der linken Seite ist das von Vashti verschmähte Festmahl des Königs zu sehen. Auf der rechten Seite sieht man das Festmahl der Königin und eine Szene, die – Vashti wird die Krone vom Haupt genommen – ihre Absetzung zum Gegenstand hat.
Brautwahl
Das eigentliche Thema des Hauptbildes, die Brautwahl, wird in einer Komposition, die große dekorative Wirkung mit außerordentlicher erzählerischer Klarheit verbindet, als ein Defilee von prächtig gekleideten Frauen vermittelt, die angeleitet von Dienerfiguren an dem das Zentrum der Bildtafel beherrschenden Thron des Königs vorbeiziehen.
Hier, gefasst von der doppelten Pfeilerreihe des Thronraums, aktualisiert sich die friesartige Komposition zur Begegnung zwischen der sich demütig verbeugenden Esther und dem sich mit Gesten der Betroffenheit vom Thron erhebenden Ahasveros. Die Brautwahl ist getroffen.
Und dies ist die Perspektive unter der in dieser Truhe der erste Teil der Esthergeschichte inszeniert wird: der Angelpunkt der gesamten Konzeption liegt im Blick des Ahasveros oder in seinem Herzen, wenn man berücksichtigt, dass der Fluchtpunkt der außerordentlich stringent durchgeführten zentralperspektivischen Komposition in der Brust des Königs liegt.
Er ist derjenige der Esther wahrnimmt, ihr Identität verleiht, sie herauslöst aus der anonymen Prozession der Frauen, die in sein als Architektur ausformuliertes Gesichtsfeld treten, um bei Nichtgefallen wieder aus seinen Augen, d.h. aus dem architektonisch gefassten Raum zu verschwinden.
Die beiden Seitentafeln der Truhe gewinnen im Zusammenhang der Esthergeschichte ihren spezifischen Sinn – Esther die Szene betretend, Vashti die Szene verlassend.
Sie geben aber streng genommen nichts wieder, was im biblischen Text erzählt würde oder was Teil der Darstellungstradition wäre.
Auch fehlt das Bemühen durch die Beibehaltung des Kostüms – klassische identifizierende Strategie in Simultanerzählungen – die Wiedererkennbarkeit der Figuren zu sichern. In diesem Sinne bleiben beide Frauenfiguren anonym, sind Teil der Prozession, die von der einen angeführt, von der anderen abgeschlossen wird. Nur der auf Gegensatz angelegte emotionale Gehalt der Ersten und der Letzten, die in den Seitenbildern isoliert werden, lädt zur Identifizierung mit den beiden Heroinen ein.
Gesenkter Blick und gestreckter Finger
Die Vashti der Florentiner Tafel ist in der Pracht ihrer Kleidung, ihren sorgfältig frisierten blonden Haaren in keiner Weise von den anderen, am König vorüberziehenden Frauen unterschieden. Und in diesem Sinn ist sie aus ihrer persönlichen Geschichte herausgelöst, die eine Geschichte des bestraften Hochmuts ist.
In der Tat will die populäre Darstellungstradition, dass sie in Sack und Asche vom Hof vertrieben wurde. Bei Botticellis Darstellung fehlt alles Gewalttätige und Erniedrigende, was auf Bestrafung verweisen könnte. Sie hat ihren Platz geräumt und setzt damit das Roulette der Brautschau in Gang.
Die Melancholie, die sie charakterisiert, während sie sich Schritt für Schritt vom Zentrum entfernt, wird in der Haupttafel schon als Schicksal der nicht von Ahasveros Auserwählten eingeführt: eine Nebenfigur, den Dienern vergleichbar, die die Bewegungen der Frauen dirigieren, lehnt in Melancholiegestus an dem Pfeilerpodest rechts des königlichen Thronraumes und konnotiert damit schon das Verlassen des Thronraumes als unter dem Zeichen der Schwermut stehend.
Letztlich ist Vashti – die vom Hof Verbannte – nur eine unter denjenigen, an denen der König/Richter keinen Gefallen findet. Ein Paradiesvogel, der seinen Moment gehabt hat und noch einmal aufleuchtet, bevor er in der dämmrigen Natur verschwindet – um auf der anderen Seite (in Ottawa eben) mit nach oben gestrecktem Finger wieder in Erscheinung zu treten. (M.F.)